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Recovery

Der Begriff Recovery (1) schafft ein fachliches Gegengewicht gegen den besonders in Deutschland zurzeit vorherrschenden psychiatrischen Krankheitsbegriff. In Deutschland geht man überwiegend davon aus, dass in erster Linie biochemische Prozesse des menschlichen Hirns für die Ausbildung psychischer Erkrankungen verantwortlich sind. Die Therapie zielt deshalb darauf ab, diese somatischen Prozesse zu beeinflussen. Hierzu werden pharmakologische Heilmittel für zwingend erforderlich gehalten, die unmittelbar in das Hirngeschehen eingreifen können.

Andere therapeutische Verfahren werden von dieser vorherrschenden Richtung psychiatrischer Behandlung als „komplementär“ angesehen. Sie sind darauf gerichtet, die sozialpsychologischen und sozialen Folgen der Erkrankung zu beeinflussen, nicht aber die Krankheit selbst. Diese Sichtweise sieht „Heilung“ als einen Zustand an, bei dem Krankheitssymptome (wie beispielsweise das Stimmen-hören) nicht mehr auftreten.

Im Bereich der Suchterkrankungen ist diese Sichtweise schon sehr lange in Frage gestellt worden. Denn wie könnte man den Heilungserfolg bei einem Alkoholabhängigen daran festmachen, dass er kein Suchtverhalten mehr verspürt? Muss man nicht denjenigen Patienten als geheilt ansehen, der in allen Lebenslagen motiviert und willensstark bleibt, keinen Alkohol mehr zu sich zu nehmen? Ist es sinnvoll, den „trockenen Alkoholiker“ weiterhin mit dem Ziel pharmakologisch zu behandeln, ihm auch noch die Neigung zu einem suchtmäßigen Umgang mit Alkohol zu entziehen?

Recovery rückt die verschiedenen Symptome psychischer Erkrankungen (Alkoholmissbrauch, Stimmen-hören, Melancholie) wieder zurück in das ganz normale menschliche Leben. Dieses Leben ist voll von individuell geprägten Umgehensweisen mit den positiven und negativen Anforderungen des Alltags. Viele Aspekte dieses ganz normalen Lebens könnte man bei entsprechendem Blickwinkel auch als Symptomatik einer bestehenden oder sich entwickelnden psychischen Erkrankung ansehen. Wenn aus gelegentlichem Alkoholmissbrauch tatsächlich Alkoholsucht werden könnte oder bereits geworden ist, dann ist ein entsprechend fachliches Eingehen auf diesen Veränderungsprozess sinnvoll und geboten. Doch weder der Zusammenhang, in dem der Alkoholmissbrauch nun als Suchterkrankung auftritt, noch der Mensch, der diese Veränderung spürt bzw. von seinen Bezugspersonen zurückgemeldet bekommt, muss nun in veränderter Weise angesehen und „begriffen“ werden.

Der Lebensprozess, der den Patienten in die Suchterkrankung gebracht hat, kann auch wieder zur Heilung zurückführen. Wenn es einen Unterschied gibt zwischen dem Weg in die Erkrankung und dem Weg aus ihr zurück, dann kann man ihn darin sehen, dass der Weg zurück mehr Bewusstsein braucht über die Bedingungen, die bei diesem konkreten Menschen Sucht auslösen und Sucht begrenzen können. Er braucht Ermutigung und sozialen Rückhalt durch Menschen, die von der Suchtproblematik wissen. Er braucht die Erfahrung, über eigene Bewältigungskräfte zu verfügen.

Selbstverständlich haben diese Lebensprozesse nicht nur eine geistig-seelische Dimension, sondern auch eine körperliche. Ein Alkoholmissbrauch greift in den Stoffwechsel des menschlichen Körpers ein, beeinflusst Kreislauf und Hirnfunktionen. Der Körper kann sich an die regelmäßige Einnahme von Alkohol so gewöhnen, dass akute Probleme auftreten, wenn es zu einer Unterbrechung kommt. Der Eingriff durch körper bezogene Heilmittel ist notwendig und sinnvoll, kann aber niemals die Therapie ausmachen, sondern diese nur unterstützen. Nach dem von Recovery beeinflussten Heilungsverständnis ist die pharmakologische Therapie als komplementär anzusehen, sie ergänzt den eigentlichen Heilungsprozess, der auf einen Bewältigungsstatus abzielt, von dem der einzelne Betroffene aus wieder nach eigenen Vorstellungen sein Leben gestalten kann, mit oder ohne Symptome.

Hansgeorg Ließem

1 Michaela Amering, Margit Schmolke: Recovery. Das Ende der Unheilbarkeit, Psychiatrie-Verlag: Bonn 2007